Marktorientiert und pragmatisch:
Die Energiewende braucht einen Neustart

Deutschland steht an der Schwelle zu einem klimaneutralen Zeitalter. Der Anteil erneuerbarer Produktion von Strom hat 60 Prozent erreicht. Der weitere Teil der Strecke zu Klimaneutralität wird aber mit der Energiewende alter Prägung kaum zu schaffen sein. Statt die Erfolge des Vergangenen zu feiern, brauchen wir eine „Energiewende 2.0“. Einen Neustart, der uns ins Ziel bringt.

Die Energiewende der letzten Jahre war gekennzeichnet durch eine „Planverliebtheit“. Zu viel Regulatorik „von oben“ hat vielen Menschen den Eindruck vermittelt, dass allein Planerfüllung im Vordergrund steht, nicht aber das Wohl des Ganzen. Soll die Energiewende 2.0 wieder Wind unter den Flügeln haben, dann geht es genau darum: Den Menschen in den Mittelpunkt stellen, ihn in seinen Anliegen ernst nehmen, auf Zurückhaltung, gar Widerstand konstruktiv eingehen. Statt wie beim Gebäudeenergiegesetz Misstrauen zum Ausgangspunkt legislatorischer Arbeit der Ministerialbürokratie zu machen, muss Regierungshandeln zukünftig den Mut aufbringen, mehr Freiräume in der Anwendung zu gewähren. Erfüllungsoptionen müssen nicht bis ins kleinste Teil ausbuchstabiert werden. Es genügt, Leitplanken zu setzen und jedem selbst die Entscheidung zu überlassen, welche Spur auf dem Weg zur Klimaneutralität für ihn die angemessene ist. Die große Mehrheit unserer Gesellschaft will dieses Ziel mitgehen, sie will dies allerdings ohne administrative Bevormundung.

Die Energiewende der letzten 25 Jahre hat in Deutschland dazu beigetragen, dass weit über 15.000 Rechtsnormen1 die Verwirklichung des energiepolitischen Zieldreiecks – sicher, bezahlbar und klimaneutral – belasten und in Frage stellen. Höchste Zeit für einen „Point Zero“, von dem aus ein überkomplexes Regelwerk verschlankt und vom Kopf auf die Füße gestellt wird. Keine Kettensäge, wohl aber ein deutsches Energiegesetzbuch, welches das Gewollte entlang einer Zielhierarchie ohne Vollzugskonflikte widerspruchsfrei definiert und – wo überhaupt nötig - mit schlanker und transparenter Förderung adressiert. Der europäische Zertifikatehandel (ETS) läuft dabei nicht einfach nebenher. Im Gegenteil: Er ist der zentrale, alles überwölbende Marktmechanismus zum Erreichen der gewünschten Klimaneutralität. Er ist Ausgangspunkt und Leitinstrument für die Prämierung der wirtschaftlichsten Erzeugungsform von Energie in Europa.

Bezahlbare Energie entscheidet über die Investitionsbereitschaft von Unternehmen und die Motivation bei jedem einzelnen. Energieprojekte vor Ort beweisen sich am Nutzen für Betroffene. Ein Energiesystem, das mehr als bisher Flexibilität von Angebot und Nachfrage belohnt, kann am besten Mehrwert für alle stiften. Die Energiewende 2.0 ist kein Projekt für irgendwann. Der Klimawandel sagt uns allen: Neustart ist jetzt.

1 Vgl. BBH-Übersicht „Normenvielfalt im Energiesektor“, September 2021